Jens Korte, wir nähern uns dem Jahresende, wie ist die Stimmung an der Wall Street?
Der Dow Jones hat ein paar verlustreiche Tage hinter sich. Hier an der Wall Street ist man froh, wenn man einen Schlussstrich unter das Börsenjahr 2022 ziehen kann. Mitte der letzten Woche erhöhte die US-Notenbank zum siebten Mal hintereinander den Leitzins und zwar um 50 Basispunkte auf 4.5 Prozent. Doch ausgelöst hat den Kursrutsch nicht die Zinserhöhung an sich, sondern der Kommentar von US-Notenbankpräsident Jerome Powell, dass er 2023 so gut wie kein Wachstum erwarte. Zudem hat Powell durchblicken lassen, dass die Zinsen 2023 noch etwas stärker steigen dürften, als es die Notenbank im September prognostiziert hatte.
Welche realwirtschaftlichen Entwicklungen zeichnen sich ab?
Auch die Wirtschaft gerät langsam ins Rutschen. Wir haben schwache Verkaufszahlen aus dem Detailhandel gesehen: Die Absätze sind im November doppelt so stark zurückgegangen wie erwartet. Ebenso schwach sind die Zahlen aus dem verarbeitenden Gewerbe ausgefallen, auch das deutet daraufhin, dass sich das Wachstum abschwächt. Die Zinsen steigen, die Wirtschaft kühlt ab. Eine logische, von der US-Notenbank beabsichtigte Entwicklung.
Wir haben 2022 Höchststände bei der Teuerung gesehen, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Was war die Hauptursache?
Tatsächlich hat die Inflation das Börsenjahr 2022 geprägt, sowohl hier in den USA wie fast überall auf der Welt. In den USA war der Arbeitsmarkt ein wichtiger Treiber der Teuerung. Wir haben hier eine historisch tiefe Arbeitslosigkeit. Was sehr gut ist für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch den Lohndruck massiv erhöht und damit die Teuerung befeuert.
Für Anlegerinnen und Anleger war es ein verlustreiches Jahr. Hat Sie das Ausmass der Verluste überrascht?
Überrascht hat es mich nicht, Bloomberg hat zwar geschrieben, dass Kleinanlegerinnen und -anleger weltweit rund 350 Milliarden Dollar mit ihren Aktienanlagen verloren haben. Dennoch müssen wir das in Relation setzen zu den Rekordjahren, die wir davor gesehen haben. Diese Korrektur musste kommen und ist keinesfalls dramatisch.
Diese Verluste sind auch eine Folge der höheren Zinsen. Welche Konsequenzen sehen Sie ausserhalb der Finanzmärkte?
Die Folgen der höheren Zinsen wirken sich mit Verzögerung auf die Realwirtschaft aus. Ein Beispiel sind die höheren Zinsen, welche Amerikanerinnen und Amerikaner für ihre Schulden bezahlen müssen. Dies wird sich sehr wahrscheinlich auf den Kauf von Neu- oder Gebrauchtwagen auswirken. Zudem sehen wir bereits die Konsequenzen am Immobilienmarkt. Hypotheken werden teurer und die Nachfrage nimmt ab. Und nicht zuletzt werden auch die in den USA beliebten Kreditkartenschulden teurer.
Aber es gibt auch Lichtblicke: Die Höchststände bei der Teuerung sind wohl durch, und zuletzt gab es Anzeichen, dass die Lieferkettenprobleme, die uns nun seit der Pandemie begleiten, bald behoben sein dürften. Das Börsenjahr 2023 wird sicherlich nicht von Beginn weg reüssieren, es könnte aber ab der Hälfte des nächsten Jahres durchaus erfolgreich werden.